Nix zu verlieren
Wladiwostok an und kaufte von dem Rest des Geldes Postkreditbriefe, und kehrte im Frühjahr nach Slowenien zurück. Es war Ende April, die Narzissen durchbrachen die Scholle. In dem Dorf wartete er an der Schulpforte.
Als Lara ihn erblickte, fuhr sie ihre Hand an die Kehle und biss auf ihre Lippen, dann rieb sie sich die Augen, als wäre ein Staubkörnchen hineingeraten, und sie sagte: »Da bist du endlich.«
Als er sie betrachtete, in der Sonne, die ihr Haar, von dem er so oft geträumt hatte, leuchten ließ, brachte er kein Wort über seine Lippen.
Tief in seinem Brustkorb hörte er wieder dieses stürmische Rauschen, und er blieb stehen wie ein Schuljunge, bis sie auf ihn zukam und seinen Arm nahm.
Sie gingen nebeneinander, sprachen kein Wort. Sie verließen das Dorf, liefen über die Felder bis zu dem Hügel, von dem das Tal unter ihnen grün und sanft war und das Dorf einer Puppensiedlung glich. Und noch immer konnte er es nicht fassen, dass er ihre Hand hielt, ihre Zartheit unmittelbar neben ihm war, und ihr Duft, der ihn schwindlig werden ließ und dafür verantwortlich war, dass er kein Wort über seine Lippen kam. Aber die Stimmen aus dem Eis flüsterten seltsame Worte in sein linkes Ohr, moralisch verwerflich, und voll von beißendem Spott.
Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm, und weil ihm nichts einfiel, was er hätte sagen können, nahm er seinen Bankauszug und die Reiseschecks aus seiner Hosentasche und legte sie auf ihrem Schoß. Aber sie beachtete beides nicht. Sie schaute stattdessen ihn an und ihre Augen blickten voll Zärtlichkeit, weil ihr auffiel, wie mager er war und die große Narbe über seine Wange sah, die er einem Vielfraß verdankte. Diese zwei Jahre hatten tiefe Furchen in seinem Gesicht und dunkle Schatten unter seinen Augen hinterlassen.
»Es ist ein großes Geschenk, das du für jemand wie mich, mitgebracht hast«, flüsterte sie. Er begriff die Tragweite ihrer Worte erst, als sie die Reiseschecks und den Bankauszug wieder zusammenfaltete und ihm zurückgab – ohne einen Blick darauf zu werfen. In diesem Moment geschah etwas mit ihm, er spürte den Klos in seinem Hals, die aufkommenden Tränen, ihre Arme, die ihn hielten, als er hemmungslos weinte, und auch sie schmeckte das Salz ihrer Tränen, weil sie den Mann gefunden hatte, mit dem sie bis ans Ende der Welt gehen würde…
Nix zu verlieren
Krimi/Anthologie
von Manu Wirtz (Herausgeberin)
Preis: 2,99 Euro (eBook) |9,90 Euro (Taschenbuch)
Umfang ca. 156 Seiten
Was ist das Gefährlichste auf der Welt?
Ein Mensch, der NIX ZU VERLIEREN hat!
Und was kommt dabei heraus, wenn zu diesem Thema ein Verlag, eine Herausgeberin und Mörderische Schwestern zusammenarbeiten?
Ein Krimi-Kunstwerk ohnegleichen!
Schwarzhumorig, hammerhart, gefühlvoll …
Lasst euch mörderisch überraschen.
Der Textausschnitt ist aus der Kurzgeschichte „Sibirien“ von Astrid Korten 🙂